Sonntag, 2. Februar 2014

Timona, Leseprobe


Ich habe als Leseprobe das Ende des ersten Teils ausgewählt: Timona lebt im Witterwald bei ihren Zieheltern, einem alten Wittererpaar namens Hombra und Henno. Eines Tages haben die drei ein gefährliches und einschneidendes Erlebnis ...

17

"Das Essen ist fertig!", rief Hombra, aber wieder einmal schien keiner sie zu hören. Wo steckten Henno und Timona? Henno war vor Stunden losgegangen, um nach dem heftigen Regen der letzten Nacht nach frischen Regenbogenhunzeln zu suchen. Timona war entweder mitgegangen, oder sie trieb sich irgendwo herum, wahrscheinlich in der Nähe ihrer Lieblingsstelle bei der alten Eiche. In letzter Zeit wusste man nie genau, wo sie gerade steckte. Oft kam sie zu spät oder gar nicht zum Essen, murmelte – wenn sie dann erhitzt und verdreckt heimkam – eine kurze Entschuldigung, nur um sich nach kurzer Zeit wieder abzusetzen. So ging das nicht weiter. Hombra rief erneut. Merkwürdig, dass Henno nicht kam. Er war sonst immer pünktlich. Als auch auf ihr drittes Rufen niemand antwortete, stellte Hombra energisch die Schüssel mit dem Essen beiseite und machte sich auf die Suche.

Der Regen der Nacht hatte die arge Hitze der letzten Tage vertrieben. Es wehte ein leichter Wind, und Hombra schritt schnell aus. Sie ging in die Richtung, in der sie selbst die meisten Regenbogenhunzeln erwartete; sicherlich war Henno vor ihr diesen Weg gegangen.
Nach ein paar Minuten nahm sie seine Witterung auf. Sie lag also richtig mit ihrer Vermutung. Timona war allerdings nicht bei ihm. Hombra schnüffelte und verfolgte Hennos Spur – und plötzlich erschrak sie: Da war noch ein anderer Geruch in der Luft, ein süßlicher Duft mit einem scharfen Beigeruch. Traumwurz! Sein Geruch vermischte sich mit Hennos Spur. Hombra ging zögernd ein paar Schritte weiter. Beide Gerüche nahmen zu, und Hombra meinte schon, die müdemachende Wirkung des Traumwurz zu verspüren. Oder lag es daran, dass sie so schnell gegangen war? Noch ein paar Schritte – und wieder wurden die Gerüche intensiver.
Warum um Himmels willen war Henno hier weitergegangen? Warum war er nicht sofort umgekehrt, er, der Vorsichtige, der sie und Timona immer wieder vor dem betäubenden Duft des Traumwurz gewarnt hatte?!
Hombra blieb unschlüssig stehen. Sie musste gähnen, aber gleichzeitig raste ihr Herz vor Angst. Wo steckte Henno? Noch zwei Schritte. Eine Brise wehte ihr entgegen und trug ihr den süßen Duft des Traumwurz entgegen und mit ihm den Geruch von Hennos Spur. Hombra strengte ihre Augen an und glaubte, Henno ganz hinten an einem der großen Bäume liegen zu sehen.
Eine wilde Panik packte Hombra; sie war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen oder einen Schritt zu tun. Sie wusste, dass sich Henno in Lebensgefahr befand und dass sie selbst auch in Gefahr war, wenn sie nicht gleich umdrehte. Aber das konnte sie doch nicht tun! Sie konnte doch Henno nicht einfach da liegen lassen! Sie stieß einen heiseren Hilfeschrei aus. Da glaubte Hombra plötzlich, Hennos Stimme zu hören. Er rief nach ihr! Sie musste sofort zu ihm und ihn retten. Ohne einen weiteren Gedanken stürzte Hombra vorwärts.
Der Duft war überwältigend.
Überwältigend schön.
Hombra fiel aus dem Lauf in leichten Trab, dann ins Gehen. Weshalb wurde der Traumwurz eigentlich für so gefährlich gehalten? Etwas, das so herrlich duftete, konnte einfach nicht schlecht sein. Hombra fühlte sich plötzlich auf eine angenehme Weise müde. Sie hörte wieder Hennos Stimme, diesmal ganz nah. "Komm zu mir!", rief er, "leg dich auch ein bisschen hin. Hier ist es schön. Lass uns gemeinsam ausruhen."
Ja, das wollte Hombra tun. Sie sank auf dem Traumwurz nieder und schloss die Augen. Das letzte, was sie wahrnahm, war ein merkwürdig scharfer Geruch.

Timona hatte wieder einmal in der Krone ihrer Eiche gesessen und versucht, über die Wipfel der anderen Bäume hinwegzusehen. Aber es war ihr wie immer nicht gelungen. Die Eiche war nicht hoch genug, und der Witterwald zu groß. Timona seufzte, kletterte vom Baum herunter und machte sich auf den Heimweg.
Nach ein paar hundert Metern glaubte Timona, Hombra rufen zu hören. Der Ruf kam nicht aus der Richtung des Hauses. Sie stand einen Augenblick unschlüssig still und lauschte – aber es blieb ruhig im Wald. Trotzdem begann sie im Weitergehen, nach Spuren Ausschau zu halten.
Timona war gut im Spurenlesen. Sie konnte zwar nicht so gut riechen wie Hombra und Henno, aber dafür hatte sie scharfe Augen. Ja, hier war tatsächlich eine frische Spur. Sogar zwei Spuren. Die von Henno und Hombra. Sie waren vom Haus gekommen und hinter einem großen Stein abgebogen. Timona folgte ihnen.
Gerade überlegte sie, ob es nicht unsinnig war, hier weiterzugehen. Sicher waren Henno und Hombra längst einen anderen Weg zurückgegangen und warteten mit dem Mittagessen auf sie. In diesem Moment glaubte sie, in der Ferne eine Gestalt am Boden liegen zu sehen. War das Hombra? Timona begann zu laufen, erreichte Hombra völlig außer Atem und ließ sich neben ihr nieder. Hombra sah sehr blass aus, aber sie atmete.
"Hombra, was ist los mit dir?", rief Timona und schüttelte sie leicht, aber Hombra erwachte nicht. Trotz aller Sorge hatte Timona plötzlich das Bedürfnis, sich neben Hombra zu legen und etwas auszuruhen. Nur ganz kurz. Diese weißen Blümchen, auf denen Hombra lag, sahen so einladend aus wie ein weiches Bett, und sie verströmten einen angenehmen Duft.
Moment? Was hatte sie da gerade gedacht?! Wo war sie hier überhaupt?! Timona setzte sich erschrocken auf. Weiße Blüte ... betörender Duft ... das war Traumwurz! Ein grünlich-weißer Blütenteppich, und da hinten – lieber Himmel!
– da lag auch noch Henno!
Mit Anstrengung rappelte sich Timona auf. Sie musste sofort weg hier, sonst schlief sie auch noch ein. Sie keuchte, als sie Hombra auf ihren Rücken nahm. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so schwer sein könnte.
Timona wankte vorwärts. Ein Windstoß kam, und der Duft der Blüten hüllte sie ein. Ihre Beine waren wie Blei, sie atmete schwer und widerstand dem Verlangen, Hombra abzulegen und sich hinzusetzen. Langsam, ganz langsam bewegte sie sich aus dem Blumenfeld heraus. Endlich hatte sie es geschafft. Sie legte Hombra in einiger Entfernung von dem Traumwurzteppich ab, ohne zu warten, ob sie erwachte.
Sie musste zu Henno. Timona biss die Zähne zusammen. Dieses Mal wusste sie, was auf sie zukam. Und Henno lag ein ganzes Stück weiter weg als Hombra. Andererseits musste sie ja nicht so lange bei ihm verweilen, wie sie es bei Hombra getan hatte. Und überhaupt schien das Gift auf sie nicht so stark zu wirken wie auf die Witterer. Ihr Geruchssinn war weniger empfindlich. Außerdem könnte sie versuchen, die Luft anzuhalten.
Während Timona diese Gedanken durch den Kopf schossen, lief sie auch schon wieder los, auf Henno zu. Dabei hielt sie den Atem an. Das war anstrengender als sie gedacht hatte. Schon nach zwanzig Schritten hatte sie das Gefühl, Luft holen zu müssen. Dreißig Schritte. Ihr Herz hämmerte. Vierzig. Ich kann nicht mehr. Fünfzig. Timona taumelte vorwärts. Fünfundfünfzig. Sie blieb japsend stehen. Sofort spürte sie die lähmende Müdigkeit im Kopf und in den Beinen. Sie sah zurück: Etwa die Hälfte des Weges lag hinter ihr. Nur nicht aufgeben, dachte sie. Wieder hielt sie die Luft an, aber dieses Mal ging sie, ohne zu rennen. Sie schaffte keine fünfzig Schritte. Nicht einmal zwanzig. Atmen! Und wieder diese Müdigkeit.
Da bemerkte Timona auf einmal zwischen sich und Henno ein gemütlich aussehendes Bett mit einer roten Blütendecke. Während sie weiterging, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, die sagte: "Komm, leg dich ein bisschen hin! Du kannst gleich weitergehen! Eine kleine Pause kann nicht schaden."
"Nein!", keuchte Timona. Jetzt begann sie schon zu fantasieren! Trotzig und mit zentnerschweren Beinen stapfte sie über das Bett hinweg, das sich augenblicklich in Luft auflöste. Nun war sie schon sehr nahe bei Henno. Aber was war das? Neben ihm saß Hombra zwischen den Blumen, lachte sie an und sagte: "Komm, setz dich zu uns. Das mit dem Traumwurz ist Unsinn. Es gibt keinen Traumwurz. Wir wollten nur testen, ob wir dir vertrauen können und ob du dich an unsere Warnungen hältst."
Timona starrte die beiden an, den schlafenden Henno und die lachende Hombra. Nein, so waren ihre Zieheltern nicht. Sie würden sie nie belügen, um sie auf die Probe zu stellen.
"Du bist nicht Hombra", stieß Timona hervor, "du bist ein Hirngespinst!" Sie machte einen entschlossenen letzten Schritt auf Henno zu, und das Trugbild verschwand.
Timona nahm sich keine Zeit zu überprüfen, ob Henno lebte, sondern hob ihn auf ihren Rücken, was ihr erst beim zweiten Anlauf gelang. Dann machte sie sich auf den Rückweg. In weiter Ferne konnte sie Hombra liegen sehen. In unendlich weiter Ferne ...
Timona wankte vorwärts, ohne zu denken, nur weiter, weiter, weiter ... Sie stolperte über eine Wurzel und fiel auf die Hände. In diesem Moment tauchte in nächster Nähe wieder das rote Bett vor ihr auf. Ausruhen, sich hinlegen und schlafen, das wollte sie! Auf dem Bett lag schon jemand. Ein Drache - unglaublich! Timona hörte ihn rufen: „Komm her! Setz dich zu mir, ruh dich aus, und ich erzähle dir etwas über das Leben in der Drachenstadt."
"Ja, Drachenstadt ...", murmelte Timona. Mühsam kroch sie zu dem Bett und sank neben dem Drachen nieder. Es war angenehm, hier zu liegen und alle Anstrengung vergessen zu können. Gleich würde der Drache ihr erzählen, was sie schon seit Jahren wissen wollte. Bestimmt kannte er ihre Eltern. Das einzig Unangenehme war dieser scharfe Geruch ... Der Drache öffnete das Maul – und in diesem Augenblick hörte sie einen Schrei: "Timona!!"
Das Bild des Drachens zerplatzte.
Timona hob mühsam den Kopf. Wer wagte es, den Drachen zu vertreiben und sie in der schönsten Ruhe zu stören?! Sie starrte nach vorn. Da sah sie Hombra stehen. Sie winkte wild und schrie: "Timona, steh auf! Geh weiter! Du darfst nicht schlafen! Du darfst nicht im Traumwurz liegen bleiben!"
Traumwurz? Timona sah sich um. Sie lag nicht auf einem roten Bett, sondern im Traumwurzbeet. Neben ihr lag Henno. Und vor ihr schrie und schrie Hombra wie eine Verrückte.
Die Verrückte bin ich, dachte Timona. Sie rappelte sich auf und zerrte Henno mit sich. Zum Glück wehte der Wind nun aus der anderen Richtung und trug ihr den Geruch des Waldes zu. Der betäubende Duft des Traumwurz ließ etwas nach. Timona schaffte es, aufzustehen und Henno wieder auf die Schulter zu nehmen. Sie wankte auf Hombra zu, erreichte sie und wurde von ihr noch ein gutes Stück weiter geschoben. Dann ließ sie Henno heruntergleiten und sank neben ihm zu Boden.
"Lebt er?", fragte Hombra. Sie beugten sich beide über Henno. Ja, er lebte. Unverkennbar. Sie hörten sein vertrautes Schnarchen. Hombra legte seinen Kopf in ihren Schoß und begann, hemmungslos zu schluchzen. Timona lehnte erschöpft an einem Baum und wunderte sich, dass Hombra weinte, jetzt, wo doch alles wieder gut war. Schließlich raffte sie sich auf und sagte: "Komm Hombra, wir müssen weiter. Wir dürfen hier nicht so lange sitzen bleiben. Wenn der Wind noch einmal dreht ..."
Hombra sah auf und schniefte, dann nickte sie: "Aber wie sollen wir Henno ...?"
Wortlos nahm Timona ihn hoch. Diesmal war er ganz leicht; sie konnte ihn mühelos tragen.
Den Rückweg verbrachten sie schweigend. Henno schnarchte leise an Timonas Schulter. Hombra trottete neben ihr her. Timona hing ihren Gedanken nach. Der andere Drache ... Sie hätte eigentlich wirklich gern mit ihm geredet.
Unsinn. Er war ja nur ein Traumbild ...
Aber trotzdem.


18

In den Tagen nach diesem Ereignis waren sie alle drei verstört: Hombra stürzte sich wie wild auf verschiedene Arbeiten in Haus und Garten – aber sie tat es nicht fröhlich wie sonst, sondern verbissen und mit sorgenvoller Miene. Henno war schweigsamer als gewöhnlich. Und Timona saß stundenlang in der Krone ihrer Eiche, ließ sich zu Hause noch seltener blicken als zuvor und träumte sich in die Drachenstadt. Sie dachte über ihre Eltern nach, und sie dachte an Hombra und Henno. Vor allem an ihn. Er war nur mit knapper Not dem Tod entronnen. Wenn sie nicht gerade da gewesen wäre ...
Timona lehnte den Kopf gegen den Baumstamm und fühlte sich hin und her gerissen wie noch nie.

Hombra und Henno saßen derweil allein beim Essen und rührten wortlos in ihren Schüsseln. Schließlich hielt Hombra das Schweigen nicht mehr aus und sagte: "Henno, wie bist du nur in das Traumwurzfeld geraten?"
Henno ließ seinen Löffel sinken: "Ich konnte es nicht riechen." Er zögerte und fügte hinzu: "Ich kann fast gar nichts mehr riechen ..."
"Du kannst nicht mehr wittern?!", rief Hombra entsetzt.
"Fast nicht mehr", korrigierte Henno.
"Das ist ja furchtbar. Seit wann geht das denn schon?"
Henno zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung. Schon länger. Ein paar Wochen."
Jetzt, da es endlich ausgesprochen war, fühlte er sich besser. Auf Dauer war es sehr anstrengend gewesen, seine Schwäche vor Hombra und Timona zu verbergen. Irgendwie hatte er auf einen günstigen Zeitpunkt gewartet, um darüber zu sprechen, aber der Zeitpunkt war nie günstig gewesen, und er hatte ihn immer wieder verschoben.
Hombra war fassungslos. Warum hatte sie nichts gemerkt? Sicher – ihr war klar, dass Henno längst nicht mehr so gut witterte wie früher. Und wenn sie darüber nachdachte, war ihr schon aufgefallen, dass er in letzter Zeit gelegentlich gegen einen Ast gelaufen oder über eine Wurzel gestolpert war. Aber sie hatte das immer für Schusseligkeit gehalten oder es auf sein krankes Bein geschoben.
"Wie konntest du dich bloß orientieren?", fragte sie schließlich.
"Gehör. Gedächtnis. Ein bisschen Sehen. Und mit ein paar Tricks."
"Tricks?", wiederholte Hombra verständnislos.
"Schritte zählen. Auf besondere Wegpunkte achten. Euch hinterhergehen", erklärte Henno lächelnd.
Es war nicht einfach gewesen. Ständig hatte er sich konzentrieren müssen. In das Traumwurzfeld hatte er sich in Gedanken versunken verirrt, weil er vergessen hatte, an der großen Weide links abzubiegen. Und als er an seiner Müdigkeit gemerkt hatte, wo er war, da war es zu spät gewesen.
In Hombras Kopf ging alles durcheinander: Sie war besorgt, entsetzt, fassungslos – ein Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. Sie hatte mit Henno über verschiedene Dinge reden wollen, mit denen sie sich in den letzten Tagen herumgequält hatte, aber nun wusste sie nicht mehr, was sie sagen wollte oder sollte.
Wie konnte Henno den Verlust seines Geruchssinnes so gelassen hinnehmen? Sie wandte sich ihm zu. Nein, sie hatte sich getäuscht. Er war genauso verwirrt und besorgt wie sie selbst. Es war bloß nicht seine Art, zu jammern oder in Tränen auszubrechen. Hombra wurde plötzlich klar, wie alt und gebrechlich Henno schon war.
Und sie selbst – sie war auch schon alt.
Plötzlich war Hombra völlig klar, was gesagt werden musste: "Ich mache mir Sorgen um Timona. Was soll aus ihr werden, wenn wir beide einmal nicht mehr leben? Timona hat hier keine Zukunft. Sie gehört in die Drachenstadt."
"Ja", sagte Henno. Mehr brachte er nicht heraus. Hombra hatte genau das ausgedrückt, worüber er selbst schon lange nachgedacht hatte. Nun, da die Sache ausgesprochen war, von Hombra ausgesprochen, fühlte er plötzlich eine so ungeheure Erleichterung, dass ihm fast die Tränen kamen.
In diesem Augenblick stürmte Timona herein. „Tut mir leid, dass ich jetzt erst komme, aber ich ..." Sie brach ab und starrte Hombra und Henno an. "Ist irgendetwas passiert?"
"Nein, nein", beeilten sich Hombra und Henno zu sagen.
"Ihr macht aber Gesichter, als ob die Welt gleich untergeht!" Timona ließ sich auf dem freien Platz nieder. "Also, was ist los? Ist es meinetwegen?"
"Ja", bestätigte Henno, der sich wieder gefasst hatte, "wir denken über deine Zukunft nach."
"Über meine Zukunft?", fragte Timona erstaunt, "ist die denn so düster?"
Henno musste unwillkürlich lachen. "Düster nicht, aber auch nicht einfach."
Damit sollte er ein wahres Wort gesprochen haben.


19

"Ich kann nicht fortgehen und euch hier allein lassen."
"Du musst aber", sagte Henno. "Es geht überhaupt nicht anders. Du hast im Witterwald keine Zukunft. Was soll hier aus dir werden?"
Timona hob die Schultern: "Ich muss auf euch aufpassen."
"Oh nein, das musst du nicht!", sagte Hombra mit Nachdruck.
"Wir passen schon gegenseitig aufeinander auf, darauf kannst du dich verlassen!"
"Und wohin soll ich gehen?"
"Weißt du das nicht selbst?"
"Doch."
So in etwa war das Gespräch zwischen den dreien verlaufen. Natürlich wusste Timona, wohin sie gehen sollte – keine Frage! Es erleichterte sie ungemein, dass diese Entscheidung nun endlich gefallen war und dass Henno und Hombra sie unterstützten und ihr offenbar zutrauten, allein den Weg in die Drachenstadt auf sich zu nehmen. Aber trotzdem. Timona hatte Angst. Vor dem Weg und vor dem Abschied.
Zum Glück hatte sie nicht allzu viel Zeit zum Nachdenken, denn nun ging auf einmal alles sehr schnell. Die Tage waren mit Reisevorbereitungen ausgefüllt. Vieles musste geplant und besprochen werden, Sachen mussten gepackt und Timonas Weg überdacht werden. Vor allem aber war Henno daran gelegen, ihr möglichst viele seiner Erfahrungen mit auf den Weg zu geben. Er war inzwischen permanent heiser vom vielen Reden, und Timona schwirrte der Kopf von all dem Gehörten. Dabei fiel Henno ständig noch etwas Wichtiges ein, das sie seiner Meinung nach unbedingt wissen musste.
Er sagte zum Beispiel, während sie ihre Suppe löffelten: "Nimm nichts zu essen von einem Küstenmakai an." Oder: "Vertraue nie den Wiesenwieseln! Sie betrügen und klauen, wo sie nur können." Oder: "Die Zwerge, die in den Dörfern leben, sind gutmütig und hilfsbereit. Nur vor bärtigen Zwergen musst du dich hüten!"
An solche oder ähnliche Äußerungen schlossen sich dann oft lange Erklärungen und Diskussionen an, und manches Mal musste Hombra ihrem Mann die Hand auf die Schulter legen und sagen: "Nun lass es gut sein, Henno. Du verwirrst ja Timona noch völlig."
Etwa eine Woche vor ihrer Abreise erzählte Henno Timona etwas über die Hundestadt: "Wenn du da hineinwillst, musst du ein Rätsel lösen."
"Ich will aber gar nicht in die Hundestadt!"
"Trotzdem. Vielleicht musst du hindurch. Das Rätsel geht so: Wer geht morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen?"
"Wer denn?", fragte Timona.
"Überleg doch mal selbst!"
Timona grübelte, aber sie kam nicht darauf. "Verrate es mir!"
"Nein, erst musst du selbst überlegen." Henno stand auf und kramte in einer alten Kiste. "Jetzt zeige ich dir erst einmal etwas sehr Wichtiges." Er kam mit einer Rolle zu Timona, die sie erstaunt in den Händen drehte und dann vorsichtig aufwickelte.
"Was ist das?", wollte sie wissen.
"Das ist ein Bild von der Welt", erklärte Henno. "Eine Landkarte. Stell dir vor, du bist ganz oben auf dem Witterberg ... und noch viel höher: In den Wolken. Und dann malst du auf, wie die Landschaft von oben aussieht. Die Karte hier hat noch eine Besonderheit: Sie ist für Blinde gemacht – oder für solche wie mich. Streich mal hier drüber, du kannst Berge und Täler und Flüsse erfühlen." Timona und Henno betasteten andächtig die Karte.
Henno erklärte: "Hier, das ist der Witterwald. Und das dort ist der Trollwald. Hier sind Wiesen und noch mehr Wälder."
"Wo ist die Drachenstadt?", wollte Timona wissen.
"Sie ist leider nicht mit auf der Karte", sagte Henno. "Sie muss irgendwo hier liegen, hinter diesen Bergen und jenseits des Sumpfgebietes."
"Und wie komme ich am besten dorthin?", fragte Timona.
"Du musst einen weiten Umweg machen, schätze ich. Du kannst das Vulkangebirge nicht überqueren. Es ist zu gefährlich Eine Wanderung durch den Sumpf würde ich dir auch nicht empfehlen. Und durch das Witzlingsgebiet ebenfalls nicht. Meiner Meinung nach musst du zur Hundestadt und dich von dort aus nach Norden halten."
Timona seufzte: "Das wird aber eine weite Reise!"
"Habe ich je etwas anderes behauptet? Aber besser weit als zu gefährlich!"
Timona nickte. Sie betrachteten und betasteten noch eine Weile gemeinsam die Karte, bis Henno sie schließlich wieder zusammenrollte und Timona mit den Worten in die Hände legte: "Dies ist wahrscheinlich dein wertvollster Gegenstand. Hätte ich die Karte von Anfang an gehabt, wäre ich mindestens ein Jahr früher zurückgekommen. Also pass gut darauf auf."
Timona versprach es feierlich, verstaute die Karte in ihrem Tragekorb und sah Henno nach, der in den Garten hinkte. Da fiel ihr plötzlich die Erklärung für das Rätsel ein.
"Henno, ich weiß jetzt die Lösung!"
"Welche Lösung?"
"Die Lösung des Rätsels: Wer geht morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen: Das bist du, Henno."
"Wieso ich?"
"Naja, als Baby bist du wahrscheinlich auf vier Beinen gekrabbelt – wie die kleinen Wittererkinder bei den Treffen. Dann hast du Laufen gelernt und bist ganz normal auf zwei Beinen gegangen. Und jetzt auf drei!" Sie deutete auf seinen Wanderstock.
"Stimmt", sagte Henno. "Nur dass die Wächter vor den Toren der Hundestadt als Lösung 'Witzlinge' hören wollen."
"Naja, das kann ich mir merken", sagte Timona.
"Und dann musst du dir unbedingt noch merken, dass du nicht in den Stadtteil gehen darfst, der an das Witzlingsgebiet grenzt ..."
Damit waren sie beim nächsten Thema. So ging es in einem fort.


20

Und dann war es so weit. Timona war so nervös wie noch nie in ihrem Leben. Heute würde sie endlich aufbrechen.
Das gemeinsame Frühstück verlief ziemlich schweigsam. Henno sagte zu Anfang: "Dunkelwölfe sind auch sehr gefährlich. Wenn du einen triffst, musst du unbedingt ..."
Aber dann erfuhr Timona nicht, was sie unbedingt tun musste, wenn sie einen Dunkelwolf traf, denn Hombra unterbrach ihn und sagte bestimmt: "Henno, ich will jetzt kein einziges Wort mehr hören."
Von da an aßen sie schweigend weiter. Timona brachte kaum einen Bissen herunter. Sie fühlte sich krank. Ihr war schlecht, das Herz hämmerte ihr bis zum Hals, und ihr Gesicht glühte.
Hombra räumte den nur halb gegessenen Brei vom Tisch und fragte besorgt: "Hast du Fieber?"
"Unsinn", mischte Henno sich ein, "sie hat höchstens Reisefieber."
Daraufhin hockte sich Timona auf den Boden und packte zum dritten Mal ihren Tragekorb aus und wieder ein. Ja, sie hatte an alle wichtigen Dinge gedacht. Neben der Landkarte steckte noch ein bisschen Reiseproviant in dem Korb und die Decke, die sie auch schon bei ihrer ersten Wanderung zum Witterberg dabei gehabt hatte.
"Nimm doch eine andere Decke mit", hatte Hombra gesagt, "diese ist schon so alt."
"Ich will aber die", hatte Timona bestimmt.
Außerdem lagen in dem Korb noch ein paar persönliche Sachen. Viel war es nicht. Eigentlich waren es nur ein Stück Eierschale und vier Holzfiguren von Henno, nämlich die beiden Witterer, der kleine Drache und der zweiköpfige Hund Ikko. Und ein selbstgemachtes Deckchen von Hombra, das Timona ihr vor kurzem abgeschwatzt hatte. Darin hatte sie die Holzfiguren und die Eierschale behutsam eingewickelt. Nun wickelte sie sie gerade wieder aus.
Henno trat zu ihr: "Timona, es wird Zeit, du musst los."
Und Hombra sagte zum dritten Mal: "Oder soll ich doch bis zum Witterberg mitgehen?"
Timona schüttelte den Kopf. "Nein", sagte sie fest. "Du musst bei Henno bleiben."
Sie hatten schon zweimal darüber geredet. Es war besser, wenn sie sich gleich hier trennten. Timona kannte den Weg bis zum Witterberg, und sie wollte den Abschied von Hombra nicht unnötig in die Länge ziehen.
Abschied, dachte Timona. Und Abschied, Abschied, Abschied, pochte es in ihrem Kopf. Sie stand auf und konnte Hombra und Henno nicht ansehen. Wenn Hombra jetzt weint, kann ich nicht gehen, dachte sie, und wenn Henno weint, fall ich auf der Stelle tot um.
Sie hielt Hombra den kleinen Drachen hin, den Henno einst geschnitzt hatte, und reichte Henno das Stück Eierschale. "Das wollte ich euch noch schenken", sagte sie und musste schlucken.
"Ich habe auch noch etwas für dich", sagte Henno. Er gab ihr die zwei Feuersteine. Da konnte Timona die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fing an zu schluchzen und fiel ihren Pflegeeltern um den Hals. Alle drei weinten sie jetzt. Aber Timona fiel nicht tot um. Und da nahm sie ihren Korb auf. Henno und Hombra begleiteten sie bis in den Garten.
"Dann geh ich jetzt", krächzte Timona.
"Leb wohl", sagte Henno, und Hombra umarmte sie noch einmal.
Und dann ging sie wirklich. Sie ging und zählte dreißig Schritte, bevor sie sich umdrehte und winkte. Henno und Hombra standen im Garten und winkten zurück.
Timona ging zügig weiter. Sie ging und ging und machte keine einzige Pause, bis sie den Witterberg erreicht hatte, um bloß nicht nachdenken zu müssen. Sie stieg ein letztes Mal auf den Gipfel. Timona hatte heute eine gute Sicht auf die ganze Umgebung: Hinter ihr lag der Witterwald mit ihrem Zuhause. Vor ihr lag die Welt.
Als sie hinabstieg, wurde Timona plötzlich leichter zu Mute. Sie ging an der Salzader vorbei und packte zwei Stücke Salz ein.
Dann betrat sie zum ersten Mal unbekannte Wege.